Eine kleine Weihnachtsgeschichte

Es ist der Morgen des 24.Dezembers 2740, als der kleine Erik mit seinem Schlitten einen der riesenhaften Wohntürme der Stadt Frankfurt-am-Main verlässt.
Seine Mutter hat gut darauf geachtet, dass er seinen wärmsten Ski-Overall anzieht und eine Mütze aufsetzt.
Letzte Nacht hat es wieder einmal stark geschneit, so dass die ganze Landschaft unter einer weißen Decke steckt.
Selbst die Bäume sehen aus, als ob jemand eine Packung Puderzucker über ihnen ausgeschüttet hätte.
'Wer sowas wohl macht?', denkt sich Erik, bleibt inmitten der ungewohnten verzauberten Landschaft stehen und sieht sich um.
Im Osten graut bereits der Morgen und ein Streifen von Karmesinrot kündigt den baldigen Sonnenaufgang an.
Im Norden und Westen ist es noch stockdunkel und man kann die Sterne gut erkennen.
Als Erik zu ihnen blickt ist er ein wenig traurig, weil er noch immer seine Großeltern vermisst, die vor über einem Jahr mit dem Kolonistenschiff AENEAS zu einem Flug in den Tiefenraum aufgebrochen sind.
Ein leises Knirschen vor ihm, reißt ihn aus seinen Gedanken heraus.
Vor seinen Füßen sitzt ein Hase, sieht ihn an, schnuffelt kurz und hoppelt dann weiter.




Erik setzt ebenfalls seinen Weg fort und kommt zu der Gruppe von Kindern, mit denen er seit September die Vorschule besucht.
„He guckt mal! Erik kommt mit einer Antiquität!“, ruft der freche Gregori, der Erik und seinen besten Freund Linus immer wieder zu ärgern versucht.
Missmutig blickt Erik seinen alten Holzschlitten an, der ein Erbstück von irgendeinem uralten Vorfahren aus dem 20.Jahrhundert ist, und hofft, dass er nicht gleich bei der ersten Fahrt zusammenbricht.
Was das für eine Schande wäre!
Die anderen Kinder haben alle die neuesten Schlittenmodelle, die mehr an ein superschnelles Raumschiff als an einen Schlitten erinnern.
„He Erik!“, ruft sein Freund Linus, der hinter den anderen steht und ihm zuwinkt.
Erik vergisst Gregoris Witzeleien und geht zu seinem Freund, neben dem ein blond haariges Mädchen steht, das er bisher noch nicht sehr gut kennt.
So weit er sich erinnert, ist ihr Name Julia und ihre Mutter – die in der Computerzentrale der Stadt arbeitet – eine alte Schulfreundin seines Vaters.
„Mach dir nix aus dem Hirni.“, versucht sie ihn aufzumuntern.
„He! Was haltet ihr davon, wenn wir zur Sprungschanze gehen?“, fragt sie Erik und Linus.
„Sprungschanze? Was ist denn das?“, hakt Linus nach und seine Augen weiten sich vor Angst.
„Wir kommen schon wieder lebend nach Hause, oder?“, will Erik wissen, der zwar kein Angsthase wie Linus ist, aber ein ganz klein wenig mulmig ist ihm nun doch.
„I wo! Ist nix Schlimmes. Das wird ein Riesenspaß!“, meint Julia und trottet los.
Erik und Linus folgen ihr gehorsam und kommen zu einer Schlittenbahn, die wirklich nicht besonders steil ist.
'Ha! Das ist doch ein Klacks!', denkt sich Erik, setzt sich auf seinen Schlitten und saust beherzt die Bahn hinunter.
Kurz vor dem Ende der Bahn erhebt sich aber ein kleiner flacher Hügel. Als Erik mitsamt seinem Schlitten über diesen rast und danach durch die Luft segelt, wird ihm augenblicklich klar, warum Julia es „Sprungschanze“ nannte.
Am Rande der Bahn stehen ein paar Hasen und bewundern seinen unfreiwilligen Sprung still und leise.




Nach wenigen Augenblicken landet Erik unversehrt wieder auf der Bahn.
Julia und Linus fahren so schnell es geht hinterher.
„Erik-Schatzi, geht es dir gut?“, fragt Julia Erik, der immer noch starr vor Schreck auf seinem Schlitten sitzt und die Hörner der Kufen fest umklammert hält.
„Also dafür, dass dein Schlitten 'ne Antiquität ist, hat er ganz schön was drauf! Das waren mindestens zehn Meter.“
„Was heißt hier zehn Meter!“, beschwert sich Linus, „Der Ärmste hat bestimmt sein ganzes Leben an sich vorbei ziehen sehen! Schau ihn dir an! Der ist ja total im Eimer!“
„Na, nun übertreib mal nicht so!“, versucht ihn Julia zu beschwichtigen.
„Seht mal, da drüben bei der Hütte und dem Lift ist ein Maronenverkäufer! Da können wir uns aufwärmen und Erik wird’s auch gleich wieder besser gehen.“
Zusammen gehen sie zu dem Mann, der auf einem elektrischen Ofen Kastanien warm macht, so dass man sie essen kann.
„Na Kinder, möchtet ihr ein paar heiße Maronen?“
„Ja sehr gerne!“, antwortet Julia und kauft mit ihrer Creditcard drei Tüten.




Nachdem Erik ein paar davon gegessen hat, wird er langsam wieder der alte.
„Du Julia. Das nächste mal tust du mich aber bitte vorwarnen. Ich hab gedacht, ich komm nicht mehr runter.“, murmelt Erik mit vollem Mund.
„Okay, wird gemacht.“, sagt sie, wobei sie verschmitzt lächelt.
Dann fahren sie zusammen noch ein paar Stunden mit ihren Schlitten die Bahn hinauf und hinunter, bis sich allmählich der Abend nähert und die Sonne am Horizont zu versinken beginnt.
Die Kinder kehren gemeinsam wieder zu den Türmen der Stadt zurück und lassen sich von den zahlreichen Liftkapseln zu ihren Wohnungen bringen.
Einerseits tut es Erik leid, dass er sich von Linus und Julia verabschieden muss, andererseits freut er sich aber auch auf das Weihnachtsfest und vor allen Dingen Tante Isis, die nachher zu Besuch kommt.
Ein bisschen wehmütig verabschiedet er sich von ihnen und sie verabreden sich für den nächsten Tag, um sich zu erzählen, welche Geschenke sie bekommen haben.

Als Erik die Wohnung betritt duftet es ganz lecker nach den Gewürzen, die seine Mutter für die Plätzchen verwendet hat: Zimt, Muskatnuss, Blütenhonig, Mandeln, Nelken, Piment, Vanille und Anis.
Erik schließt kurz die Augen und atmet tief ein.
Was für ein herrlicher Duft!




Ein kurzer Blick ins Wohnzimmer verrät ihm , dass der Weihnachtsbaum schon aufgestellt worden ist und einige Geschenkpakete darunter liegen.
Auf der Spitze des Baumes, der gut doppelt so groß wie Erik ist, prangt ein goldener Stern und an den Zweigen hängen alte Glaskugeln, die wunderbar anzusehen sind.
Dieses Jahr hat seine Mutter darauf bestanden, wieder einen echten Baum aufzustellen und nicht das künstliche Hightech-Imitat, das wie eine Discokugel in den verschiedensten Farben leuchten und dabei auch noch Weihnachtslieder herunterdudeln kann.
Irgendwie gefällt Erik der klassische Weihnachtsbaum auch besser.
Vielleicht, weil seine Nadeln so ein wunderschönes kräftiges Grün haben und er immer noch nach Harz duftet.
'Was wohl Tante Isis sagen wird, wenn sie sieht, dass der künstliche Baum, den sie und Papa schon seit ihrer Kindheit kennen, dieses Mal nicht hier steht?', fragt er sich.
Und dann ist es auch schon so weit!
Die Türklingel ertönt und sein Vater läuft schnell aus der Küche, wo er seiner Mutter noch mit dem Braten geholfen hat, zur Tür.
„Hallo große Schwester!“, begrüßt er sie herzlich und umarmt sie.
„Hallo Kleiner! Na wie geht es euch denn“, erwidert sie ebenso herzlich, bis ihr Blick zufällig auf den Weihnachtsbaum fällt.
„… und sag mal, was ist denn das da für ein grünes Ding? Das habt ihr doch nicht etwa aus dem Wald geklaut?“
„Äh nein. Also das war so. Shaula wollte dieses Jahr mal einen echten Baum.“, antwortet Eriks Vater verlegen.
„Julius Tobias Bachmann.“, sagt Isis nun in einem Ton wie der Weihnachtsmann, der die Kinder fragt, ob sie etwas Böses getan haben.
„Soll das heißen, dass wir dieses Jahr keinen Hightech-Baum mit Lichteffekten haben?“
„Ähm … ja.“
„Und soll das heißen, dass dieser Baum auch keine Weihnachtslieder spielt?“
„Äh … ja. Ich gestehe. Die Lieder müssen wir dieses Jahr selber singen.“
Entsetzt lässt sich Isis auf die neben dem Baum stehende Couch plumpsen.
„Lieder singen!?“, ruft sie, „Das haben wir ja zuletzt gemacht, als noch Dinosaurier auf der Erde rumliefen!“
„Oh keine Sorge. Die Liedtexte können wir hier auf diesen Pads nachlesen.“, meint Eriks Mutter, die gerade hinzu gekommen ist und drückt der verdutzten Isis eine kleine elektronische Tafel in die Hand, auf der sie einige Texte gespeichert hat.
„Was gibt es eigentlich zu essen?“, möchte Isis wissen.
„Es gibt Gans mit Rotkohl. Und die ist gerade fertig geworden. Also kommt mit und lasst uns essen.“, verkündet Shaula fröhlich.
Bei dem Genuss der leckeren Gans ist der Schock über den ungewohnten Weihnachtsbaum auch schnell vergessen und alle fühlen sich wieder pudelwohl.
Nach dem Essen gehen sie ins Wohnzimmer zurück und stellen sich vor dem Baum auf, um vor der Bescherung ein paar Lieder zu singen.
Eriks Vater schaltet die Zimmerbeleuchtung ab, so dass nur noch die biolumineszierenden Leuchten am Weihnachtsbaum das Wohnzimmer in ein schummriges Licht tauchen.
„Ach übrigens, habe ich schon erwähnt, dass ich nicht singen kann?“, witzelt Isis.
„Das macht nichts.“, erwidert Shaula, „Und notfalls kann sich Erik die Ohren zu halten.“
Aber ganz so schlimm wird es dann doch nicht, als die Familie „Oh du fröhliche“, „Es ist ein Ros entsprungen“ und – passender weise – „Tannenbaum“ singt.




Als man das letzte Lied glücklich beendet hat, ist endlich der große Augenblick gekommen, auf den Erik den ganzen Tag gewartet hat.
Nun werden die Geschenke verteilt und er ist ganz aufgeregt vor Ungeduld.
Erik schenkt seinem Vater ein Kartonmodell der Sonde CASSINI und seiner Mutter einen Origami-Blumenstrauß, die er im Bastelunterricht gebaut hat, was gar nicht so einfach war.
Tante Isis bekommt von ihm ein Modell ihres Forschungsschiffes COPERNICUS, das er aus Brennknetmasse gemacht hat.
Von seinem Vater, der auf dem Mond im LUNA-Museum arbeitet und Spezialist für alte Raumsonden ist, bekommt er eine Enzyklopädie über alte Sonden und Raumschiffe.
Besonders beim Anblick der allerersten Raumkapseln in dieser Enzyklopädie bewundert er den Mut der Menschen, die sich mit solchen – für heutige Verhältnisse – Nussschalen ins Unbekannte gewagt haben.
Seine Mutter, die ebenfalls auf dem Erdmond als Astronomin arbeitet, schenkt ihm ein Handbuch der Stiftung-für-Weltraumwissenschaften-und-Erforschung.
Viele bekannte Forscher der Gegenwart haben in diesem Buch etwas über ihre Fachgebiete geschrieben.
Beim Durchblättern weißt ihn seine Mutter auf Professor Bernard hin, der ihr Lehrer war, als sie noch studierte.
Bernard hat gleich zwei Artikel in dem Buch geschrieben.
Einen über das gigantische schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße und den anderen über die Kontaktaufnahme mit unbekannten Völkern.
Beim Weiterblättern stößt Erik auf einen Artikel über Weltraum-Archäologie, der von einer ihm gut bekannten Person geschrieben wurde.
„He Tante, da bist du ja auch drin!“, ruft er begeistert.
„Ja stimmt, mein Lieblingsneffe. So und nun ist es Zeit, dass du mein Geschenk bekommst.“
Mit diesen Worten holt sie aus ihrer Jackentasche ein kleines Gerät heraus, das gerade mal so groß wie Eriks Daumen ist.
„Das ist die Fernbedienung für dein erstes Privatraumschiff.“, fügt sie erklärend hinzu.
Mit einem Schlag ist Erik ganz aus dem Häuschen.
Mit allem hat er gerechnet, aber doch nicht mit einem dieser tollen Privatraumschiffe, die praktisch genauso weit fliegen können wie die modernsten Schiffe der Forschungsflotte!
Seine Mutter ist nicht ganz so begeistert über das Geschenk ihrer Schwägerin.
„Ein Privatraumschiff? Muss das sein? Er ist doch erst im August fünf Jahre alt geworden.“
„Ach mal dir mal keine Sorgen.“, versucht Eriks Vater die Situation zu retten, „Als ich und Isis so alt waren, sind wir fast jedes Wochenende mit unserem eigenen Raumschiff LIBELLE in der halben Galaxis rumgegurkt. Mann waren das Zeiten!“
„Oh ja.“, erinnert sich nun auch Isis, „Eine unserer ersten Touren ging zum Nordamerika-Nebel. Und viele Kugelsternhaufen haben wir uns auch angesehen. Aber am allerliebsten haben wir die Mendriten getroffen und geknuddelt.“
Nachdem ihr Mann und seine Schwester so ins Schwärmen geraten sind, lässt Shaula Fünf gerade sein und akzeptiert, dass ihr Sohn nun stolzer Besitzer eines Raumschiffes ist.
„Tante, was für ein Schiff ist es denn?“, möchte Erik wissen, der vor lauter Freude ganz aus dem Häuschen ist.
Isis drückt auf einen Knopf an der kleinen Fernbedienung, worauf ein Lichtstrahl aus dem Gerät herausschießt und ein dreidimensionales Bild des Schiffes zeichnet, zu dem sie gehört.
„Es ist ein Schiff der DELPHI-Klasse und heißt PLEIADES. Nicht so mickrig wie die TRITON- oder DELPHIN-Klasse. Es ist sogar ein klein wenig schneller als mein Schiff.“
Bei den letzten Worten zwinkert sie Erik zu und lächelt ein wenig verschmitzt.
„Das auch noch …“, murmelt Shaula.




Fröhliche Weihnachten!